* 16. Januar 1943
von Klaus Lippe
Essay
„Das konsistente Überschreiten der Grenzen des menschlich Möglichen“ zählt zum programmatischen Kern der Musik Brian Ferneyhoughs (Ferneyhough 1995, 233). Absicht seiner Kompositionen ist es, die Aufmerksamkeit von der holistischen Unmittelbarkeit des Klangs abzuziehen und sie stattdessen auf die Differenzen und Relationen zwischen den verschiedenen, notationalen, performativen oder perzeptiven Dimensionen des musikalischen Kunstwerks zu richten. Die Grenze zwischen dem potentiell Möglichen und seiner notwendig selektiven Realisierung wird zum Thema nicht nur der kompositorischen Arbeit, sondern auch der notationalen Fixierung und Aufführung der Komposition. So ist das Verhältnis der Potentialität des Notierten zu seiner Aktualisierung in einer Aufführung ein ebenso konstitutives Element des Kunstwerks wie die Realisierung bestimmter kompositorischer Möglichkeiten vor dem Horizont stets auch anders möglicher Materialselektionen in den Herstellungsprozessen. Ein der Komplexität der Kunst Ferneyhoughs adäquates Verständnis verlangt nicht zuletzt die Beobachtung dieser spezifischen, das Werk durchdringenden Differenz von Aktualität und Potentialität.
Der musikalischen Notation kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Zum einen operieren die Kompositionen in der Distanz einer nicht nur medialen, sondern auch „konzeptionellen“ Schriftlichkeit (Danuser 1998, Koch/Oesterreicher 1986), die sich zu einer weitgehenden Autonomie der kompositorischen Mittel gegenüber den klanglich-externen Referenzen des Notationssystems gesteigert hat. Mehr noch als ...